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Frühgeburt: So ist das Leben einer Familie mit Extrem-Frühgeborenen


Das Leben einer Familie mit Extrem-Frühgeborenen

t-online, Anja Speitel

Aktualisiert am 12.11.2014Lesedauer: 8 Min.
Ganz wird Leopold (links) seinen Bruder Maximilian wohl nie einholen, er ist von Geburt an größer und kräftiger.Vergrößern des BildesGanz wird Leopold (links) seinen Zwillingsbruder Maximilian wohl nie einholen, der ist von Geburt an größer und kräftiger. (Quelle: privat)
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Leopold und Maximilian sind eineiige Zwillinge und doch ganz unterschiedlich: Dass beide überhaupt leben, grenzt für ihre Eltern an ein Wunder, denn die Frühchen mussten schon in der 28 Woche entbunden werden. Von da an begann ein anstrengender Weg. So unterschiedlich haben sich die "Extrem-Frühchen" entwickelt, die heute acht Jahre alt sind.

Martina Frühwald war in der 20. Woche schwanger, als sie erfuhr, dass ihre eineiigen Zwillinge Leopold und Maximilian am "feto-fetalen Transfusionssyndrom" (FFTS) litten. Beim FFTS findet dauerhaft ein unausgewogener Blutaustausch zwischen den Zwillingen statt. Die Aussage der Neonatologen in der Universitäts-Frauenklinik der LMU München: Alles könne gut werden, aber beide Kinder könnten auch sterben. "Mein Ziel war es, mindestens die 32. SSW zu erreichen. Doch in der 28. SSW war es dann soweit: Am Freitag, den 26. März 2004, mussten die Jungs geholt werden", erinnert sich Martina Frühwald. Maximilian wog bei der Entbindung 1070 Gramm, Leopold nur 870 Gramm.

Leopold hätte sterben müssen

Zwei Tage nach der Geburt, musste die Leiterin der Neonatologischen Intensivstation, Professor Dr. Orsolya Genzel-Boroviczény, Martina Frühwald eine traurige Nachricht überbringen: Leopold werde sterben. Seine Niere kam nicht in Gang, seit der Geburt hatte er kein einziges Tröpfchen gepinkelt. "Der kleine Mann sah nicht gut aus und es war klar, dass er Schmerzen hatte. Mein Mann und ich beschlossen, die Medikamentengabe einzustellen und lehnten auch eine Experimentaldialyse ab - Leopold sollte nicht länger leiden." Drei Tage nach der Geburt wurde Leopold notgetauft. "Doch dann geschah das Wunder: Am Donnerstag hat Leopold einen Tropfen Pipi gemacht", erzählt Martina Frühwald und ihre Augen leuchten auf. Doch die emotionale Achterbahnfahrt ging weiter: Leopold nahm alles mit - vom offenen Ductus über Herzprobleme bis zur Gehirnblutung (II. und III. Grades). Doch er überlebte.

Nach der Entlassung begann die schlimmste Zeit

Drei Monate musste Leopold auf der Frühchenstation bleiben. Seinen Bruder Max konnten die Frühwalds schon nach zwei Monaten heim holen. Mit beiden Frühchen dann endlich zuhause, gingen die Probleme erst richtig los: Leopold benötigte eine Vielzahl an Medikamenten und jeden zweiten Tag EPO-Injektionen. Dazu behielt er seine Nahrung nicht bei sich – obwohl er sie ab dem 19. Lebensmonat sogar über eine Sonde bekam: "Ich stand jede Nacht mit dem spuckenden Kind überm Spülbecken - drei Jahre ging das so mit Leopold. Der permanente Schlafentzug hat mich fix und fertig gemacht. Jeder Lastwagenfahrer muss bestimmte Ruhezeiten einhalten, aber keiner fragt eine Mutter, wie sie das schafft. Wir lebten in ständiger Angst, Leopold zu verlieren. Ich war an den Grenzen meiner körperlichen und seelischen Belastbarkeit angekommen, stand manchmal morgens um fünf Uhr da und habe geschrien: Ich kann nicht mehr!"

"Das Schlimmste in meinem Leben"

Doch für Martina Frühwald gab es nicht die Hilfe, die heute oft möglich ist. "Diese ersten drei Jahre waren das Schlimmste, was ich in meinem Leben erlebt habe. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass es bereits eine verpflichtende Nachsorge gegeben hätte! Wie sehr hätte uns schon auf der Frühchenstation ein Gespräch mit einem Psychologen geholfen! Und hätte es dort eine Sozialarbeiterin gegeben, hätte sie uns sicherlich sagen können, wo wir Hilfe für uns und unsere Kinder bekommen hätten."

Frühchen-Eltern sind traumatisiert

Heute hat die Frauenklinik an der Maistraße solche Fachkräfte. "Doch es war ein langer Kampf und ist längst nicht selbstverständlich, dass Kliniken diese wichtige Betreuung bieten können", berichtet Genzel-Boroviczény. "Wir haben jetzt wenigstens eine halbe Stelle für eine Sozialpädagogin. Unsere Psychologin finanzieren wir durch Spenden." Dabei sei es so wichtig, gerade die Mütter aufzufangen: "Das lange Liegen ist schon belastend. Man hofft und bangt, dass es weiter geht. Dann geht es doch nicht weiter und die Frühgeburt ist ein wahnsinniger Schock. Diese Eltern sind alle traumatisiert."

Psychosoziale Betreuung hat sich verbessert

Als die Phase der High-Tech-Medizin im Krankenhaus endete, war Familie Frühwald noch auf sich allein gestellt. Denn erst 2009 wurden die verpflichtende Nachsorge im Sozialgesetzbuch (§ 43 Abs. 2 SGB V) geregelt. "Die Schwestern der Neo-Intensivstation können die Familie jetzt bis zu 20 Stunden daheim betreuen. Danach kann der Kinderarzt weitere Unterstützung verschreiben. Sozialpädagogen helfen zum Beispiel bei Anträgen. Aber es gibt noch viele Lücken. Der vermehrte Pflegebedarf Frühgeborener passt oft nicht in die Kriterien der Pflegeverordnungen: Dass ein Baby gefüttert werden muss ist ja normal – aber bei einem Frühchen mit Schluckbeschwerden dauert das vielleicht über eine Stunde. Das sind wirkliche Nöte und die Eltern sind im Bürokratismus-Dschungel oft überfordert", weiß Genzel-Boroviczény. Die Neonatologin hält Elterninitiativen, Entwicklungsneurologen und Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) für die wichtigsten Hilfen betroffener Eltern.

Entwicklungsneurologe legt Förderbedarf fest

Um bei Bedarf möglichst frühe und gezielte Therapien einzuleiten, werden Frühgeborene regelmäßig durch einen Entwicklungsneurologen untersucht: Er stellt den Therapie-Fahrplan für das Kind auf, vernetzt die Familie mit Fachärzten, Frühförderstellen und anderen eventuell benötigten Einrichtungen. "Die entwicklungsneurologische Nachsorge ist für alle Frühchen bis zum zweiten Geburtstag vorgeschrieben. Aber auch danach ist es ganz wichtig, die Kinder dort weiter betreuen zulassen", Genzel-Boroviczény. "Besonders vor der Einschulung sollten Eltern zum Entwicklungsneurologen gehen! Wie viel Probleme ein Kind durch seine frühe Geburt hat, kann man erst im Schulalter richtig beurteilen."

Leo und Maximilian: Ein "Bomber" und ein zarter Junge

Leopold und Maximilian werden jetzt schon acht Jahre alt. Nachdem sie zusammen im Kindergarten waren, besucht Maximilian bereits die 2. Klasse der örtlichen Grundschule. "Er gehört zu den Besten seiner Klasse, hat sich völlig normal entwickelt und ist mit seinen 40 kg auf 1,40 m ein "richtiger Bomber" geworden", freut sich seine Mutter. Leopold wurde ein Jahr später eingeschult: Der zarte Junge (1,20 m/23 kg) mit Brille macht eine Einzelintegration an der örtlichen Grundschule. Eine Schulbegleiterin unterstützt ihn dabei - auch wenn sich Martina Frühwald einen zweiten ausgebildeten Pädagogen in Leopolds Klasse gewünscht hätte. "Dafür kämpfe ich jetzt. Denn mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention am 17.12.2008 hat sich Deutschland verpflichtet, ein inklusives Schulsystem zu verwirklichen."

Inklusion statt Integration

Die Integration unterscheidet zwischen Kindern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf: Kinder mit Behinderungen sollen in das Schulsystem integriert werden. Bei der Inklusion hingegen sollen die Rahmenbedingungen der Schule an den Besonderheiten und individuellen Bedürfnissen eines jeden Kindes ausgerichtet werden. "Inklusiver Unterricht würde bedeuten, dass jedes Kind individuell gefördert wird und alle Lehrkräfte in der Lage sind einen zieldifferenzierten Unterricht zu gestalten. Doch die Regelschul-Lehrer werden im Studium nicht auf Integration oder Inklusion vorbereitet: Sie lernen nicht, wie man Förderpläne schreibt. Und ein Kind wie Leopold braucht natürlich einen individuellen Förderplan", so Martina Frühwald. "Es ärgert mich: Ein Platz an der Förderschule würde zwischen 3000 und 4000 Euro im Monat kosten, dazu kämen noch Fahrtkosten von 1600 Euro. Das alles spart sich der Staat jetzt für Leopold und dennoch kriegt er hier an der Grundschule keine pädagogische Unterstützung extra - die Schulbegleiterin ist keine Pädagogin."

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Eltern kennen ihr Kind am besten

Über die Empfehlung, Leopold auf eine Förderschule für Kinder mit geistigen Behinderungen zu geben, hat sich Familie Frühwald hinweg gesetzt: "Unsere Kinderärztin und -psychologin haben beide gesagt, ich solle das nicht so ernst nehmen. Leopold hat zwar eine Lernbehinderung, aber keine geistige Behinderung", ist Leopolds Mutter überzeugt. "Er hat einen super Wortschatz, keinen Dysgrammatismus und eine bessere Ausdrucksweise, als andere in seinem Alter. Das hat mir auch die Logopädin bestätigt. Nur durch seine Zerebralparese (Bewegungsstörungen aufgrund der frühkindlichen Hirnblutung, Anm. d. Red.) kriegt er manche Laute noch nicht so hin. Auch an den Händen fehlt ihm dadurch Muskulatur, deshalb schreibt er sehr krakelig und ermüdet generell schneller. Aber Leopold bekommt alles mit, kann sich alles merken und ist sehr offen und interessiert, besonders an Technik."

Sie kenne ein Frühchen, das mit 515 Gramm auf die Welt kam, eine Förderschule-Empfehlung hatte, doch heute aufs Gymnasium geht. "Doch nicht nur, weil wir Leopold am besten kennen und ihn anders einschätzen, haben wir uns gegen die Schulempfehlung entschieden. Um ein Förderzentrum zu besuchen, müsste Leopold über eine Stunde mit dem Bus fahren und dabei wieder Windeln tragen, die er endlich los ist. Denn mit seiner chronischen Niereninsuffizienz muss er sehr viel trinken, um das Organ in Gang zu halten", sagt Martina Frühwald.

Glaube ans Kind, trotz schrecklicher Prognosen

"Ich habe die Hoffnung nie aufgegeben, trotz schrecklicher Prognosen", erzählt Martina Frühwald. "Als Leopold 18 Monate alt war, sagte man uns, dass er nicht stehen und laufen würde. Da bin ich zusammengebrochen. Wir haben ihn weiter gefördert, wo es nur möglich war. Heute läuft Leopold sogar Treppen alleine hoch und runter. Er brauchte einfach für alles viel länger als andere Kinder: Das Krabbeln hat er kurz vor seinem zweiten Geburtstag angefangen und Laufen erst mit dreieinhalb Jahren." Von Geburt an bekamen beide Zwillinge Physiotherapie, ab drei Jahren Ergotherapie, dann Logopädie. Diese Therapien zahlen die Krankenkassen. Selbst finanziert haben die Frühwalds heiltherapeutisches Reiten und eine Musiktherapie. "Im April 2008 sprach Leopold nur 30 Wörter. Dann starteten wir mit der Musiktherapie und wieder geschah ein Wunder: Plötzlich explodierte Leopold sprachlich, redete wie ein Wasserfall – es war unglaublich", erzählt Martina Frühwald.

Chancen von Frühchen immer besser

Mehr als 80 Prozent der "Extrem-Frühchen", also zwischen der 25. und 28. SSW geborene Kinder, überlebten heute, davon Zweidrittel mit lediglich kleineren bis mittleren Problemen. Nur 20 Prozent tragen schwere Behinderungen davon. "Mich stört, dass der Fokus immer darauf gerichtet wird, was Frühchen nicht können. Man muss sich überlegen, was die Alternative ist: Sterben. Wollen Sie wegen fünf IQ-Punkten weniger tot sein?", fragt Genzel-Boroviczény. Häufiger als reif geborene Kinder seien Frühgeborene von Konzentrationsproblemen, ADHS und Rechenschwierigkeiten bis hin zur Dyskalkulie betroffen. Doch zuverlässige Daten, wie sich extrem frühgeborene Kinder entwickeln, gäbe es kaum. "Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich aber, dass sich selbst ganz kleine, mit 400 bis 500 Gramm geborene Kinder völlig normal entwickeln können", so die Oberärztin.

Sozialer Hintergrund ist entscheidend

"Aus der Pisastudie wissen wir ja, dass der soziale Hintergrund der Eltern den Schulerfolg eines Kindes wesentlich mitbestimmt. Bei Frühchen multipliziert sich dieser Zusammenhang noch." Denn die Eltern Frühgeborener müssen zahlreiche Termine koordinieren, Anträge stellen, sich um die ganze Frühförderung kümmern, die richtige Schule für ihr Kind wählen und so weiter und so fort. "Das ist alles viel Aufwand und eine große Belastung. Doch selbst ein Kind mit Lernschwierigkeiten oder Behinderungen kann eine sehr große Freude sein", betont Genzel-Boroviczény.

Leopold ist ein Sonnenschein

So wie sich Leopold ins Leben laviert hat, geht er seinen Weg weiter: "Er ist ein Kämpfer und will alles schaffen, was seine Geschwister auch können. Das versucht er dann so lange, bis es irgendwann klappt. Er braucht eben nur länger", erzählt Martina Frühwald. "Dennoch ist Leopold ein sehr glückliches und fröhliches Kind. Schon im Kindergarten nannten ihn die Erzieher immer "unseren Sonnenschein". Auch wenn alles sehr anstrengend war und wir jetzt bangen, wie lange er noch um eine Nierentransplantation herum kommt, sind wir sehr froh, dass er da ist – ohne ihn wäre es lange nicht so lustig. Und ich habe durch dieses besondere Kind gelernt, dass das Leben immer für Überraschungen sorgt. Man sollte nicht zu sehr verzweifeln."

Weitere Information

Rat und Hilfe bekommen Eltern frühgeborener Kinder über den Bundesverband "Das frühgeborene Kind" e. V., die Dachorganisation der Elterninitiativen und Fördervereine für Frühgeborene und kranke Neugeborene: www.fruehgeborene.de, Information zum FFTS gibt es unter www.tttsfoundation.org (US-Site, teilweise auf Deutsch)

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