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Alte Kinderreime: Sinnvolles Sprachtraining oder antiquiertes Sprachgut?


Sprechen lernen
Kinderreime sind wichtig für die Sprachentwicklung

t-online, Nicola Wilbrand-Donzelli

28.09.2012Lesedauer: 4 Min.
Fingerspiele und Kinderreime - diese Rituale machen Spaß und fördern die Sprachentwicklung.Vergrößern des BildesFingerspiele und Kinderreime - diese Rituale machen Spaß und fördern die Sprachentwicklung. (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)
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Die Kinderreime, die man in der Kindheit von den Eltern oder Großeltern gelernt hat, sind fest im Gedächtnis verankert. Doch heute kennen immer weniger Kinder dieses traditionelle Sprachgut. Vielen kommt es antiquiert vor. Sprachexperten und Pädagogen bedauern diese Entwicklung, denn die alten Verse haben eine zentrale Bedeutung für die Sprachentwicklung. 15 beliebte Kinderreime finden Sie hier.

In der Kindergartengruppe "Hotzenplotz" ist die Welt der Verse noch in Ordnung. Wenn die Kleinen im Morgenkreis mit ihren Erzieherinnen zusammen sitzen, dürfen sich regelmäßig einen Reim aussuchen. Zu den großen Favoriten zählen zurzeit "Backe, Backe Kuchen" und "Ri, Ra Rutsch, wir fahren mit der Kutsch". Egal, wie oft die Zeilen schon lautstark angestimmt wurden, jedes Mal sind die Knirpse mit Feuereifer dabei und quietschen vor Vergnügen, als könnten sie nicht genug davon bekommen.

"Die Hebamme der Sprachentwicklung"

Dass das Aufsagen solcher Verse, die für Kinder bis zu einem Alter von etwa sieben Jahren gedacht sind, nicht nur Spaß macht, sondern auch einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung der Sprache hat, weiß die Logopädin und Sprachgestalterin Heide Mende-Kurz, die sich mit dem Thema auch in ihrem Buch "Sprache statt Schnuller" auseinandersetzt. In ihrer sprachtherapeutischen Praxis arbeitet die Expertin seit Jahren erfolgreich mit den alten Reimen und setzt sich auch auf ihrer Webseite "wortforum.de" für den Erhalt und die Pflege des traditionellen Sprachguts ein, das durch den Vormarsch akustisch-elektronischer Kinderunterhaltung auf Kassetten, CDs oder MP3-Playern in den letzen Jahrzehnten vermeintlich überflüssig geworden ist.

Gegenüber der Elternredaktion von t-online.de erklärt die Sprachtherapeutin: "Diese alten, aber zeitlosen Kinderreime, die übrigens in jeder Kultur vorkommen, sind etwas urmenschliches und urheimatliches. Sie sind die Hebammen der Sprachentwicklung, sind unentbehrliche Sprachnahrung, die für Kinder so wichtig ist wie Milch." Dabei würden sie nämlich früh intuitiv alle konsonantischen und vokalischen Laute kennenlernen und so gleichzeitig für die Mundmuskulatur und den Rachenraum ein hervorragendes Fitness-Training absolvieren. Auf diese Weise könnten nicht nur Sprachentwicklungsstörungen vermieden, sondern sogar Zahnfehlstellungen oder Kieferfehlbildungen langfristig entgegen gewirkt werden.

Reime sprechen alle Muskeln im Mund- und Rachenraum an

Diese lautmalerische Sprachgymnastik ist beispielsweise bei dem Reim "Wie reiten denn die Herren? / Ra! Ra! Ra! / Wie reiten denn die Jüngferchen? / Zimperlim zimzim! / Wie reitet denn der Bauersmann / der nicht besser reiten kann? / Hobbeldi bobbeldi boo!" gut nachvollziehbar: Hier wird durch die wechselnden Lautbilder in den ersten Zeilen die Gaumen-, in der Mitte die Zungen- und am Schluss die Lippenmuskulatur gefordert.

Rhythmus und Bewegung gehören zusammen

Die treibende Kraft des Reims ist aber der Rhythmus. Er stelle ein elementares Prinzip dar, dass untrennbar zum Leben gehört wie etwa der Herzrhythmus - oder der Rhythmus des Ein- und Ausatmens, so Heide Mende-Kurz: "Durch ihn geht der Reim ganz tief hinein. Denn alles, was rhythmisch ist, vergisst man nicht mehr." Dabei spielen die Inhalte der Verse und die heute oft antiquiert wirkende Sprache und Metaphern der Reime, die teilweise noch aus dem Mittelalter stammen, offenbar nur eine untergeordnete Rolle. Kinder lieben die bunten lautmalerischen Sprachgebilde trotzdem, auch wenn sie oftmals nicht jedes Wort verstehen. Der Rhythmus macht eben den Reiz aus.

Was wären die Kinderreime aber ohne Gebärden und Gesten? Sie sind untrennbar mit den rhythmischen Laut- und Wortfolgen verknüpft. Es gibt wohl keinen Kindereim auf der Welt, der ohne Bewegung funktioniert. Dadurch wird, so haben Wissenschaftler festgestellt, nicht nur der Rhythmus der Sprache unterstützt und die Nachahmung erleichtert, sondern auch die Motorik und der Gleichgewichtssinn der Kinder gefördert.

Gesten und Gebärden schaffen Nähe und Geborgenheit

Außerdem haben die Gesten, Gebärden und Aktionen eine wichtige zwischenmenschliche Funktion, denn solche Reime werden ja immer in einer Gemeinschaft - meist mit den Eltern rezitiert: "Die begleitenden Bewegungen stellen einen engen Bezug zum Kind her", erläutert Mende-Kurz. "Sie bedeuten Nähe, geben Geborgenheit und Vertrautheit, denn die Mutter oder der Vater beschäftigen sich in diesem Moment bewusst und intensiv mit ihrem Nachwuchs. So fühlt sich das Kind liebevoll angenommen." Dabei kann die wohltuende Wirkung der Reime sehr unterschiedlich sein: Sie beruhigen, trösten, lenken ab, beugen einem Wutanfall vor oder lindern Schmerz. Wer kennt nicht die erstaunliche Kraft von "Heile heile Segen", die bei leichten Blessuren auch mal das Pflaster ersetzt.

Wiederholtes Vorsprechen und klare Artikulation sind wichtig

Neben dem Rhythmus und den Bewegungen braucht der Reim zusätzlich die Wiederholung, um nachhaltig im Gedächtnis zu bleiben. Denn nur durch Verse, die oft rezitiert werden, erwirbt das Kind allmählich über Hören, Bewegen, Sehen und Tasten eine gesunde Atem- und Sprechfähigkeit. Dabei sollten, so die Empfehlung der Logopädin, die Vorsprechenden wie etwa Eltern, Großeltern oder Erzieher immer sehr deutlich artikulieren, damit die Kinder sie entsprechend nachahmen könnten und so die notwendige Belüftung, Stärkung und Harmonisierung des Mund-, Nasen-, Rachen- und Ohrraumes gewährleistet werde.

Schon für die Jüngsten gibt es Reime

Um Kinder an die alten Verse heran zu führen, sollte man allerdings nicht warten, bis sie die ersten Worte formen. Schon bei Babys könnten Eltern solche Reime, die auch immer mit körperlicher Nähe verbunden sind, rezitieren, rät Sprachtherapeutin Mende-Kurz. Ein kleines Kind brauche nämlich zum Sprechen lernen zu allererst das Erleben der Stimmung des Sprechenden, mit dem es das gehörte Wort innerlich verbinde.

Ein Beispiel dafür ist etwa "Kinnewippchen, Rotes Lippchen, Nuppelnäschen, Augenbräuchen, Härchen Zipp." Dieser Reim ist bereits für mehrere Wochen alte Säuglinge geeignet. Beim Sprechen berühren dann die Mutter beziehungsweise der Vater die im Vers beschriebenen Stellen im Gesicht des Kindes und geben so ganz nebenbei fast alle Buchstaben des Alphabets wieder - verpackt in eine rhythmische Einheit.

Zahlenverständnis durch Fingerspiele

Neben dem Spracherwerb können Reime auch erste Grundlagen für das Zahlenverständnis legen. Das ist etwa ab dem Kindergartenalter möglich. Vor allem sogenannte Fingerspiele sind jetzt bei den Kleinen populär. Bei diesen Versen geht es weniger um die konkreten Zahlen als um den Prozess des Zahlenlernens. Dies geschieht zunächst unbewusst, indem die Kinder durch den Aufbau der Verse, die immer mit einer Geschichte verbunden sind, Aufzählungen und Abfolgen mit Hilfe der Finger üben, so wie etwa bei dem beliebten Fingerspiel: "Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen…."

Den vollständigen Wortlaut der 15 bekanntesten alten Kinderreime, die sich im Wortlaut an den Textversionen in Heide Mende-Kurz Buch "Sprache statt Schnuller" orientieren, können Sie hier nachlesen.

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