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Ritalin-Kritiker Wimmer im Interview: Macht das AD(H)S-Medikament kriminell?


Schulkind & Jugendliche
Ritalin zum Frühstück

t-online, Simone Blaß

24.03.2011Lesedauer: 9 Min.
Ritalin: Fluch oder Segen?Vergrößern des BildesRitalin: Fluch oder Segen? (Quelle: imago)
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Im Jahr 1993 wurden rund 35 kg von dem Wirkstoff an deutsche Kinder verabreicht, im Jahr 2009 waren es nach Auskunft der Bundesopiumstelle schon mehr als 1,7 Tonnen Metylphenidat, besser bekannt unter Ritalin, Concerta oder Medikinet. Rein rechnerisch spricht man von 20 Millionen Tagesdosen, eingenommen von Kindern, die unter AD(H)S leiden. Oder von denen man das vermutet. Seit zwölf Jahren beschäftigt sich Franz Horst Wimmer mit der Thematik und er ist sich sicher, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Einnahme dieser Medikamente und Kriminalität besteht.

2005 veröffentlichte der stellvertretende Kommissariatsleiter der Drogen- und Medikamentenabteilung bei der Kripo in Fürth sein erstes Buch zu diesem Thema und alle Exemplare waren in kürzester Zeit ausverkauft. Vor kurzem ist eine Neuauflage erschienen, ergänzt mit all den zahlreichen Erkenntnissen der letzten Jahre. "AD(H)S - Methylphenidat - Kriminalität? Ein Zusammenhang?" ist der Titel. Der Autor erklärt im Gespräch mit eltern.t-online unter anderem, warum er seinen Kampf gegen die falsche beziehungsweise unnötige Einnahme von Ritalin nie aufgegeben hat. Trotz massiver Widerstände.

t-online: Herr Wimmer, heute sind AD(H)S und damit auch die entsprechenden Medikamente sprichwörtlich in aller Munde. Vor zwölf Jahren allerdings war das Thema noch lang nicht so aktuell. Wie sind Sie eigentlich damals darauf gekommen?

Franz Horst Wimmer: In den USA wurde Ritalin bereits jahrelang wie Bonbons verabreicht und hier fiel auch relativ schnell ein gewisser Zusammenhang zwischen den Killerkids und den Pillen auf. Mir wurde die Problematik im Jahr 1999 bewusst und zwar durch einen meiner Fälle. Dieser Junge wurde zehn Jahre lang mit Ritalin behandelt und ist dann in die Drogenszene abgewandert. Die Eltern, beide Akademiker, wussten nicht mehr weiter und die Mutter zeigte ihn an. Beim eingeholten Gutachten wurde die Schuld beim Arzt gesucht, der junge Mann bekam Bewährung und ist heute drogenfrei.

Als Sie Ihren Kampf gegen den unsachgemäßen Gebrauch von Ritalin & Co. aufgenommen haben, waren Sie in Deutschland relativ allein auf weiter Flur. Wie stellt sich die Situation heute dar?

Im Jahr 2009 kam es, nachdem zwei Jahre lang ein so genanntes Risikobewertungsverfahren durchgeführt wurde, zu einer EU-Kommissionsentscheidung, die ganz klar besagt, dass die eigentlichen Ursachen für AD(H)S nicht feststellbar sind und man momentan von einer multikausalen Ursachenkette ausgehen muss, die nicht einzig und allein medikamentös zu behandeln ist. Und an dieser Stelle muss man auch noch einmal deutlich hervorheben: Meine Kritik bezieht sich immer auf die unüberlegte Langzeittherapie und auf das gezielte Neurodoping. Man muss sich das mal vorstellen: Gibt man solche Medikamente länger als zwölf Monate dann kann eine Sucht entstehen und man muss das Medikament "ausschleichen", also langsam reduzieren, um einer massiven Entzugssymptomatik vorzubeugen. Und wir reden hier von Kindern und Jugendlichen!

Diese Entscheidung der EU-Kommission besagt unter anderem, dass die ausschließlich medikamentöse Behandlung mit Methylphenidat als nicht ausreichend, ja sogar als unsachgemäß angesehen werden muss. Seit Herbst 2010 darf auch in Deutschland ein Medikament wie Ritalin nicht mehr so einfach verordnet werden. Hat das zur Folge, dass Ihre Arbeit nun mehr honoriert wird?

Ich bin wirklich froh, dass es jetzt diese Entscheidung von der EU gibt, die definitiv, das kann man bereits spüren, ein Umdenken zur Folge hat. Auch meine Kollegen haben nun erfreulicherweise nach jahrelanger Skepsis und vielen innerdienstlichen Schwierigkeiten erkannt, dass der Missbrauch von Metylphenidat ein polizeiliches Problem darstellt und bewundern meine Arbeit, die endlich auch entsprechend anerkannt wird.

Neurodoping ist eines der Schlagwörter in Ihrem Buch. Was hat es damit auf sich?

Methylphenidat ist nur für Kinder und Jugendliche zwischen sechs und achtzehn Jahren zugelassen. Für Erwachsene ist der Gebrauch nicht zugelassen. Aber abgesehen davon, dass das Medikament als "Vitamin R" gern auch mal an Mitschüler verkauft wird, wird es auch verstärkt von Erwachsenen eingenommen, um im Studien- und Berufsleben besser bestehen zu können. Die Menschen sind heute schnell bereit, mit Psychopräparaten nachzuhelfen. Das hat etwas mit der Einstellung zur Leistung an sich zu tun, aber sicher auch mit der durch die Arbeitsmarktsituation hervorgerufenen Angst. Ohne Topnoten schon in der Grundschule geht da gar nichts, auch das G8 ist ein schönes Beispiel. Die Schüler und Studenten unterliegen dem Diktat der Leistungsanforderungen unserer Gesellschaft, haben aber nicht die Kraft, diese Erwartungshaltungen zu erfüllen und ihre Zukunftsängste in den Griff zu bekommen. Da suchen sie nach einem Mittel, das ungefährlich erscheint, erhalten es doch Tausende von Kindern tagtäglich.

Das heißt, es interessiert in diesem Fall nicht, dass das Medikament eigentlich nicht für Erwachsene zugelassen ist?

Klar, frei nach dem Motto: Was für ein Kind nicht gefährlich sein kann, kann es auch für mich nicht sein. Das allerdings ist der erste Riesen-Trugschluss, denn der Wirkstoff, der in Medikamenten wie Ritalin enthalten ist, birgt massive Nebenwirkungen. Wenn man sich den Beipackzettel durchliest, dann erfährt man da, dass es häufig zu Aggressionen, Ängsten, Depressionen, anormalen Verhalten und sogar zu Wachstumsstörungen kommen kann, gelegentlich zu Selbstmordversuchen und sehr selten zu einem plötzlichen Herztod. Wobei das nur ein kleiner Teil der Palette ist. Der zweite Trugschluss ist der, dass die meisten meinen, die Einnahme dieser Medikamente sei völlig gefahrlos möglich und sie würden dadurch nicht kriminell handeln.

Inwiefern kann man sich denn strafbar machen?

Methylphenidat ist ein Amphetamin, in der Drogenszene auch Speed genannt, und damit ein Stoff, der dem Betäubungsmittelgesetz unterliegt. Daran sind ganz klare Vorgaben für die Verordnung geknüpft, die jahrelang sehr häufig ignoriert wurden. Inzwischen wissen die Ärzte aber, dass sich die Strafverfolgungsbehörden durchaus auch einmal einschalten. Der Verstoß gegen das BTMG ist nur eine der Seiten der Kriminalität in Zusammenhang mit dem Medikament, ein späteres, mögliches Abrutschen in die Drogenszene eine andere. Hinzu kommen durch den Wirkstoff, das Amphetamin, hervorgerufene Aggressionen und zwar nicht nur gegen andere, sondern auch gegen sich selbst. Zusätzlich gibt es da einige andere rechtliche Problemfelder, nicht nur strafrechtlich, sondern auch zivilrechtlich. Wie zum Beispiel das Führen eines Fahrzeugs. Konkret heißt es eigentlich, so ist es in der Packungsbeilage nachzulesen, dass das Reaktionsvermögen vermindert ist. Methylphenidat ist ein sogenannter "anderer berauschender Stoff" im Sinne des deutschen Strafrechts. Dadurch kann es zu massiven rechtlichen Problemen kommen, wenn man unter dem Einfluss dieses Mittels am Straßenverkehr teilnimmt. Das gilt nicht nur beim Autofahren oder Bedienen von Maschinen, sondern im Extremfall auch beim Fahrradfahren.

Wie sieht es da mit der Aufklärung durch die Ärzte aus?

Natürlich gibt es solche, die ausführlich über die Wirkung des Medikaments informieren, manche teilen auch einfach nur entsprechende Broschüren aus, es gibt aber eben auch die, die eine genauere Information über die Risiken der Medikamente für überflüssig halten oder die Risiken herunterspielen. Hier hat sich inzwischen zwar einiges geändert. Doch trotzdem gibt es zum Beispiel etwas, was die wenigsten wissen: Wenn Sie mit Ihrem Kind ins nahe gelegene Ausland reisen und dieses Kind Ritalin einnimmt, dann brauchen Sie eine Bescheinigung für das Mitführen von Betäubungsmitteln im Rahmen einer ärztlichen Behandlung, ausgestellt von der zuständigen Behörde - bei uns in Bayern ist es das Gesundheitsamt. In dieser Bescheinigung muss der verschreibende Arzt, der Patient inklusive verordneter Menge und das verordnete Medikament genau drinstehen. Nur dann stellt das Mitführen von Ritalin & Co. kein Vergehen gegen das Schengener Abkommen dar. Noch heikler wird es bei anderen Ländern. Hier sollte man sich vor der Reise gut bei der jeweiligen Botschaft erkundigen, um nicht letztendlich als Drogenschmuggler im Gefängnis zu landen. Und das kann schneller passieren als man oft denkt. Denn allgemein gilt hier wie da: Unwissenheit schützt vor Strafe nicht!

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AD(H)S hat sich regelrecht zum Boom entwickelt und viele der Kinder erhalten die Diagnose, das weiß man inzwischen, zu Unrecht. Wie kommt es Ihrer Meinung nach dann zu all diesen Zappelphilippen und welche Folgen hat das?

Eltern sind heute, das ist meine Meinung und die teile ich mit vielen Fachleuten, sehr oft einem extremen Liberalismus ausgesetzt. Sie haben keine konkrete Vorstellung von Erziehung und lassen sich bereits von Kleinkindern auf der Nase herumtanzen. Die Kinder dürfen oft gar nicht mehr lernen, sich in eine Gruppe einzuordnen. Kann aber ein Kind sich nicht auch einmal in der Klasse anpassen, dann wird es schnell in eine Schublade gesteckt, die mit AD(H)S umschrieben ist und dem Kind wird Ritalin verpasst, damit es nicht weiter aus dem Rahmen fällt. Die Kinder, die mit Metylphenidat behandelt werden, sind nämlich so manches Mal alles andere als hyperaktiv. Da herrschen, dazu gibt es inzwischen zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen, oftmals ganz andere Probleme vor. Mal spielt die Ernährung eine Rolle, mal führen Fehlhaltungen durch das KISS-Syndrom zu Verhaltensstörungen massivster Art, auch Impfungen stehen unter Verdacht und natürlich familiäre Probleme. Durch die Einnahme von Ritalin und Co. wird ein solches Kind meinen Recherchen zufolge allzu häufig zum 'Zombie', der nur noch reagiert, aber nicht mehr wirklich lebt. Viele Eltern erkennen ihr Kind nicht wieder, sind zunächst zwar oft froh über die Entwicklung, sehen sie langfristig aber mit Schrecken.

Man hat immer wieder festgestellt, dass Delinquenz und Drogenkonsum häufiger bei Menschen aufgetreten sind, die unter ADHS leiden. Doch die Hoffnung, dass sich durch die Einnahme von Methylphenidat diesbezüglich etwas ändert, hat sich nicht erfüllt. Ergeben sich hier vielleicht sogar neue Probleme hinsichtlich eines Suchtverhaltens?

Ein Kind im Alter von etwa sechs Jahren versteht durchaus schon, dass es "anders" ist, dass es von den anderen Kindern gemieden wird, nicht auf Kindergeburtstage eingeladen wird und so weiter. Und es lernt schnell, dass es mit Hilfe von Pillen sein Problem in den Griff bekommen kann. Dadurch kann tatsächlich durchaus eine grundsätzliche Sucht- beziehungsweise. Abhängigkeitsproblematik entstehen.

Hinzu kommt die Erwartungshaltung der Eltern. Kinder lieben ihre Eltern und machen Dinge, um von ihnen geliebt zu werden oder um deren Erwartungen zu erfüllen. Mit Eintritt in die Pubertät wandelt sich das Bild dann ganz oft und die Jugendlichen beginnen sich zu weigern, das Medikament zu nehmen. Was allerdings, das konnte ich in der Praxis häufig beobachten, oft zur Folge hatte, dass gerade Jungs begannen, sich dem Haschisch und anderen illegalen Drogen zuzuwenden.

Warum sind Jungs Ihrer Ansicht nach überhaupt so häufig betroffen?

Jungs dürfen heute nicht mehr Jungs sein, das ist meines Erachtens nach eines der Hauptprobleme. Wir konnten uns damals noch austoben, hatten die Bewegung, die Jungs brauchen, wir konnten einen bestimmte Typ darstellen, heute versucht man in einer sehr frauenorientierten Erziehung alles in eine Linie zu pressen. Aber das funktioniert nicht. Eigentlich brauchen wir uns über die vielen Verhaltensauffälligkeiten gar nicht zu wundern.

Die Erziehung in Krippen, Kindergärten und Grundschulen ist frauenorientiert, ganz klar. Aber immer häufiger stehen auch zu Hause die Frauen alleine da…

Ja das stimmt, Frauen werden oft alleingelassen mit dem Problem. Bei einem sehr hohen Prozentsatz haben sich die Väter ausgeklammert und der Belastungsdruck für manche Mutter ist extrem hoch. Und das gilt nicht nur für die vielen Alleinerziehenden: Viele Frauen werden auch von ihren Männern beim Thema AD(H)S unter Druck gesetzt, Nahrungsumstellungen zum Beispiel vom Vater oder auch von den Großeltern boykottiert. Das Kind hat zu funktionieren und zwar schnell. Was oft auch die Meinung der Lehrer ist, die eine ruhige Klasse wollen und die so manches Mal die Eltern unter Druck setzen, den "Störer" endlich mit Pillen ruhigzustellen. Um einem solchen Kind aber adäquat zu helfen, wäre es notwendig, als Familie erst einmal das eigene Leben zu analysieren. Am besten mit professioneller Hilfe. So manches Mal kommt man dann relativ schnell darauf, warum das Kind verhaltensauffällig ist und braucht gar kein Ritalin mehr.

Bis vor wenigen Jahren wurde immer wieder behauptet, es gäbe keine Alternativen zu den Medikamenten. Wie sieht das heute aus?

Es gibt definitiv Alternativen und zwar immer individuell ausgerichtet an dem einzelnen Kind, dem einzelnen Krankheitsbild.

Es gibt tatsächlich auch Eltern, die würden gerne mit Alternativtherapien arbeiten, können diese aber aus eigener Tasche nicht bezahlen und sind so schon fast gezwungen, auf die besagten Medikamente zurückzugreifen. Schon allein, um die Situation innerhalb der Familie zu entspannen. Denn die Kassen blocken hier oft noch rigoros ab.

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin kein grundsätzlicher Gegner von Medikamenten wie Ritalin. Ich kenne auch Fälle, in denen die Kinder so stark betroffen waren, dass es durchaus Sinn machte, sie mit Ritalin überhaupt erst einmal therapiefähig zu machen, damit andere Therapien greifen können. Aber das sind, meinen Erfahrungen zufolge, definitiv die Ausnahmen!

Aus meiner Sicht sollten betäubungsmittelhaltige Medikamente bei Kindern und Jugendlichen - von Ausnahmen abgesehen - nur zur Anwendung kommen, wenn es um lebensgefährliche Ursachen oder um die Schmerztherapie bei der Behandlung von Krebserkrankungen geht.

Ihr neuestes Buch ist gerade erschienen, aber Sie haben doch sicher schon wieder etwas Neues geplant, oder?

Ja, einiges. Momentan versuche ich zum Beispiel, gemeinsam mit einigen anderen Kritikern, wie dem Göttinger Neurobiologen Professor Hüther, die Landessportverbände zu mobilisieren, das Problem der Hyperaktivität bereits in die Ausbildung der Übungsleiter zu integrieren, um dann später gerade im Sportbereich ganz neue Wege der Problemlösung zu gehen.

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